Irenas Liste oder Das Geheimnis des Apfelbaums by Mazzeo Tilar J

Irenas Liste oder Das Geheimnis des Apfelbaums by Mazzeo Tilar J

Autor:Mazzeo, Tilar J.
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-Heyne HC
veröffentlicht: 2017-02-22T13:21:03+00:00


KAPITEL 12

Auf den Abgrund zu

Warschau, 1943

Ein Klopfen an der Tür nachts um drei Uhr konnte eine Katastrophe bedeuten, daher verursachte das leise Pochen, das Irena eines Nachts im Frühjahr 1943 weckte, ihr Herzrasen.260

Sie konnten jederzeit an die Gestapo verraten werden. Da die Angst der Deutschen vor der Macht der polnischen Widerstandsbewegung zunahm, hatten ihre Versuche, Dissidenten aufzustöbern, mittlerweile drastische Ausmaße erreicht. Doch wenn die Gestapo kam, klopfte sie nicht diskret an. Daran musste man immer denken. Ihre Besuche gingen mit Stiefelgepolter, lauten Rufen und zersplitterndem Holz einher, um maximal abzuschrecken. In Kriegszeiten gab es klare Regeln für das Klopfen an Türen, und dies war das zögerliche, nächtliche Signal eines Mitverschwörers.

Das konnte nur eines bedeuten: Bei der Operation in jener Nacht war etwas schrecklich schiefgelaufen. Während Irena den Morgenmantel enger um sich zog, hielt sie kurz inne. Sie machte kein Licht an. Ihre Silhouette könnte sie verraten. Aber selbst im Dunkeln wusste sie, wo sich die jüngsten Ergänzungen zu den Listen und die Rechnungsbücher jener Woche befanden. Sie lagen wie sonst auch auf dem Küchentisch unter dem Fenster. Irena platzierte sie bewusst immer dort. Mit nur einer schnellen Bewegung warf sie die Unterlagen leise aus dem Fenster und sah zu, wie das Zigarettenpapier mit den Listen darauf Richtung Boden flatterte und zwischen den Mülltonnen und aufgestapeltem Unrat landete. Dort würden die Papierstreifen mit den dünnen Bleistiftstrichen niemandem auffallen. »Aus Sicherheitsgründen war ich die Einzige, die die Informationen festhielt und verwaltete261, sagte Irena später und fügte hinzu: »Ich übte viele Male, sie im Fall unwillkommener Besucher schnell zu [verstecken].«

Ein rascher Blick durch den Raum versicherte Irena – alles war in Ordnung. Sie konnte die leisen Atemzüge ihrer Mutter im hinteren Schlafzimmer hören und war froh, dass das Klopfen sie nicht geweckt hatte. Irena gab sich alle Mühe, ihre gefährlichen Aktivitäten vor ihrer Mutter zu verheimlichen. Das war deren bester Schutz, wenn es zum Schlimmsten kam.

Irena schloss auf und öffnete die Tür so leise, wie es das morsche Holz und die alten Angeln zuließen. Da erstarrte sie vor Schreck. Sie meinte gerade noch gesehen zu haben, wie sich die Tür der Nachbarin gegenüber geräuschlos schloss. Hatte die alte Frau vor ihr auf das Klopfen reagiert? Vor Irenas Tür stand eine Jugendliche mit vier kleinen Kindern. Alle waren von Abwasser durchtränkt.

Bei dem jungen Mädchen handelte es sich um eine resolut wirkende Sechzehnjährige mit dunklen Augen und einem Lockenschopf, den sie streng unter eine Haube gezwängt hatte. Ihren wahren Namen kannte Irena nicht, alle jüdischen Kuriere im Netzwerk trugen Decknamen. Das galt natürlich auch für Irena, selbst wenn die wahre Identität von »Jolanta« im Widerstand seit Langem ein offenes Geheimnis war. Doch unter Folter konnte man nur preisgeben, was man wusste, daher war es besser, keine Fragen zu stellen, und Irena erkundigte sich nie bei den Mädchen, woher sie kamen.

Jolanta, flüsterte die Jugendliche. Irena zog die Tür ein Stück weiter auf und winkte die durchnässte Gruppe in die dunkle Küche. Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Irena nickte beruhigend. Sie verstand ohne weitere



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